Am 24. Dezember, nachmittags zwischen 13.30 h und 14.10 h im Hauptbahnhof:
Während im UG die Schnapsflaschen so ungeniert wie selten kreisen, probt einen Stock höher das Blasorchester für den bevorstehenden Bahnhofsgottesdienst. Während unten Menschen umeinander torkeln, stehen oben Menschen, mit ernsten Mienen die Zettel mit den Liedtexten studierend. Während unten der Rettungsdienst einen Hilflosen versorgt, und es soll nicht der erste an diesem Tage gewesen sein, singen sie oben "Alle Jahre wieder". Während sie unten ihren Hunger, wonach auch immer, mit Alkohol stillen, demonstrieren sie oben für das Leben der Weihnachtsgänse.
"Köhler mahnte zugleich, die, "die am Rand stehen und sich einsam und schlecht fühlen", zurück in die Mitte der Gesellschaft zu holen."
Vielleicht nicht holen, vielleicht hingehen? Eine Rolltreppe nach unten nur, manchmal würde das genügen, vielleicht, zumindest würde es "wirklich nicht schaden".
Weitere Gedanken zu Herrn Köhlers Weihnachtsansprache in den
Notizen.
Ich bin ja oft im Hauptbahnhof unterwegs. Weil ich auf den Zug warte. Weil ich dort Bekannte treffe. Weil an diesem Ort viel Leben erlebt wird. Doch erst heute schaffte ich es in den
Kultursalon im am Hauptbahnhof. Sehr schön und angenehm, gefällt mir. Ich wünsche viel Erfolg. So viel Erfolg, daß bald die Eintrittspreise für die interessanten Veranstaltungen gesenkt werden können.
Der Bahnhof. Oft bedaure ich es, daß ich vor dem Umbau dort nicht photographiert habe. Meine Erinnerungen verblassen. Erinnerungen an das kleine Reformhaus, dort, wo jetzt die Glitzerschillerduftwelt der Drogerie zuhause ist. Oder war es nebenan, im Tabakwarenladen? Gegenüber die kleine Kneipe, bahnhofsassig, wie es sich gehört. Lange, sehr lange schon ist die Nacht vorbei, die ein zweijähriges Bahnhofsverbot nach sich zog, doch seltsam, diese Erinnerung weigert sich zu verblassen.
Das Jugendstilrestaurant. Dunkel und wunderschön, so schön; diese Schönheit in der sich jetzt darin befindenden Schalterhalle nur noch erahnbar. Das Aki-Kino unschön, eklig für zartbesaitete Seelchen, die eigentümliche Faszination dieses Ortes, von außen nur betrachtet, nie eingestanden. Lieber schnell um die Ecke, ins indische Kunstgewerbegeschäft, Räucherstäbchen und so kaufen. Ein unheimlicher Wartesaal. Ein Schaufenster mit einer Modelleisenbahn darin, war da nicht eine rote Hand? Wer die eigene Hand darauf legte, brachte die kleine Bahn in Bewegung, war das nicht so? Die Bahn in der jetzigen Vitrine sehe ich selten fahren. Geld einwerfen ist viel langweiliger als Handauflegen und kostet Geld.
Die alten Toiletten, dreckig meist und immer stinkend, zwanzig Pfennig, so glaube ich, musste für die Benutzung bezahlt werden, nicht einEurozehn, wie jetzt oben beim Herrn Sauber.
Da war noch viel mehr, doch ich weiß es nicht mehr, ich weiß nur, daß es war. Aber Erinnerungen verblassen nicht nur, sie verschwimmen auch. Vielleicht war alles ganz anders.
Halt, da fällt mir was ein. Vor vielen Jahren beschrieb ich es mit folgenden Sätzen, die ich nun nicht verändere, auch wenn mir etliche in ihrer Form nicht mehr gefallen:
1998 erfüllte ich mir einen lang gehegten Wunsch wenigstens zum Teil. Ich wollte den Heiligen Abend im Bahnhof verbringen. Am liebsten wäre ich in die Bahnhofskneipe gegangen, doch meines Sohnes wegen schloß ich einen Kompromiß, mit dem wir beide zufrieden waren: Essen im McDonald´s (natürlich im Bahnhof), und anschließend in´s Kino.
Auf dem Weg durch die Bahnhofshalle bemerkte ich eine aufgebaute Musikanlage, ein Mann in schwarzes Leder gekleidet stimmte die E-Gitarre. Das machte mich neugierig, und nachdem wir satt waren, begaben wir uns wieder dorthin. Es war Bahnhofsgottesdienst. Wir kamen rechtzeitig zum Beginn und ich besah mir die Leute. Da waren viele der Obdachlosen, sie standen alle zusammen. Da waren offensichtlich Durchreisende mit schwerem Gepäck. Einige Familien sah ich, sie wirkten gehetzt, wohl auf dem Heimweg von den letzten Einkäufen vor den Feiertagen. Vereinzelt zwischendrin alte Menschen, jeder für sich allein. Der Mann im schwarzen Leder begann mit der Predigt. Ich kann mich nicht erinnern, was er predigte. Erinnere mich aber an die Gospels, die er laut auf der Gitarre spielte, erinnere mich gut an das zögerliche Mitsingen der Menschen um mich rum, auch mir fiel das Singen trotz der Texte im Kopf und Textzettel in der Hand schwer.
Es wurden Teelichter angezündet, viele viele Teelichter, auf dem Boden, auf einem Tischchen. Obwohl mehr Menschen zu uns stießen, wurde es stiller, das beständige Gemurmel nahm ab. Er erzählte von Jesus, von Menschen, von Liebe, von Verzeihen, ich erinnere mich nicht. Das Vaterunser wurde angesagt. Der verdreckte Mann neben mir stellte die Bierdose auf den Boden und faltete die Hände. Ich sprach nicht mit, höre viele Stimmen das Gebet sprechen, die zittrige alte Frau in meiner Nähe sprach es ebenso wie der rauhhalsige Mann neben mir und ein Jugendlicher links hinten. Ein Abschiedlied, "Go tell it on the mountains". Alle sangen, laut, falsch, gröhlend zum Teil, und als es fertig war, verlangte der Rauhhalsige nach Zugabe. Es gab eine Zugabe, und während manche nochmal sangen, bewegte sich die Menge, Menschen sprachen miteinander, eine alte feine Dame lachte mit einem der "Penner", ein Mann im Rollstuhl sprach mit dem Kind, das ihn so lange angestarrt hatte.
Mein Sohn und ich liefen dann durch die fast leere Stadt zum Kino. Ich fühlte mich einfach gut. Auch letztes Jahr verbrachten wir so den 24. Dezember, McDonald´s. Bahnhofsgottesdienst, Kino. Es war auch schön, doch der Zauber, der mich ein Jahr vorher so unvermutet getroffen hatte, war weg. Das Besondere lässt sich nicht planen.
Noch ein-, zwei- oder auch dreimal war ich dann beim Bahnhofsgottesdienst. Es war nicht mehr schön. Was meines Erachtens auch mit dem Umbau zusammenhängt. Der Unterschied zwischen Unten und Oben ist kaum mehr vermischt, auch nicht an Weihnachten. Verstehst Du, was ich meine?